Das Graffiti-Magazin Nr. 1 aus Berlin

Damals, 1997

Was man so alles beim Surfen im Netz findet – hier zum Beispiel ein Graffiti-Artikel aus dem FOCUS von 1997. Liest sich ziemlich gut:

Bomber in Berlin

Mit „null Toleranz“ versuchen Polizei und Senat, den Sprayern in der Hauptstadt Herr zu werden

Von FOCUS-Online-Autor Volker Gustedt

Geduckt huschen die beiden Gestalten durch die Nacht, immer an den Gleisen entlang. Nervöse Augen unter schwarzen Kapuzen tasten die Mauern rechts und links der Schienen ab. Endlich haben „Gonzales“ und „Mr. Abstract“ gefunden, was sie suchen: ein Stück Beton, makellos wie eine Leinwand. Am Schotterbett kauernd, lassen sie noch einen Zug vorbeidonnern – dann zücken die Graffiti-Maler ihre Spraydosen: Erst ziehen sie den schwarzen Rahmen, die sogenannte „outline“. Danach füllen sie mit Silberlack die Innenflächen ihres „piece“. Bald schimmern die Buchstaben SQF und AISM – die Namen ihrer Sprayergruppen – im fahlen Licht der Brückenlaternen. Zum Schluß noch rasch das „tag“, das Pseudonym, darunter, damit die Szene auch weiß, wer sich hier verewigt hat.

Wenn es Nacht wird über Berlin, schlägt die Stunde der Sprayer. „Bombing“ nennen sie ihre Angriffe auf die Fassaden der Stadt. Sie klettern auf Hausdächer und Baugerüste, seilen sich an Wänden ab und lauern manchmal stundenlang an Abstellgleisen ihren rollenden Opfern auf. Gruppen wie RCB („Religion Called Bombing“), GHS („Ghetto Stars“) oder CMD („Criminal Minded“) versuchen, sich gegenseitig mit waghalsigen Sprüh-aktionen zu übertrumpfen.

Die Stadt Berlin kostet dieser Wettstreit der Sprayer Millionen. Allein in diesem Jahr mußte die Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr an öffentlichen Gebäuden, Brücken und Tunnels bisher mehr als 110 000 Quadratmeter Graffiti entfernen lassen. Kosten dieser Reinigungsaktionen: sechs Millionen Mark.

An U- und S-Bahnen verursachen Schmierer und Vandalen jedes Jahr Schäden in Höhe von 40 Millionen Mark. Von den 750 Berliner S-BahnZügen muß ein Drittel täglich von Graffiti gereinigt werden. Um ihre Depots besser zu schützen, hat die S-Bahn GmbH in diesem Jahr bereits 800 000 Mark für neue Drahtzäune ausgegeben. Die Gesamtkosten, die in Berlin durch Graffiti entstehen, schätzen Experten auf 100 bis 200 Millionen Mark pro Jahr.

Jetzt hat die Hauptstadt den Underground-Künstlern den Kampf angesagt. „Null Toleranz“ lautet die Devise. An öffentlichen Flächen werden Graffiti innerhalb von 48 Stunden entfernt. ABM-Kräfte und Sozialhilfeempfänger kommen bei der „Aktion sauberes Berlin“ zum Einsatz: Sie reinigen vor allem Schulen und Schwimmbäder von den Schmierereien. Verschärfte Polizeimaßnahmen und Patrouillen privater Wachdienste sollen außerdem neue „Farbanschläge“ verhindern.

Der geballte Einsatz gegen die Sprayer-szene zeigt Wirkung. Die Polizei-Ermittlungsgruppe „Graffiti in Berlin“ hat im ersten Halbjahr 1997 bereits 1816 Anzeigen wegen Sachbeschädigung erstattet – mehr als doppelt so viele wie im selben Zeitraum des Vorjahres.

„Sprühen ist verdammt gefährlich geworden“, bedauert denn auch Sprayer „Gonzales“. „Es macht in Berlin einfach keinen Spaß mehr.“

Angst und Frust breiten sich unter den Sprayern aus. Für farbenprächtige Bilder bleibt kaum noch Zeit. Immer mehr hastig hingepfuschte Krakel bestimmen das Straßenbild. Aus Wut über die Putzaktionen kratzen einige Sprayer ihre Initialen inzwischen mit Schleifsteinen in die Fensterscheiben der Züge oder bewerfen gereinigte Fassaden mit Farbbeuteln.

Nicht jeder ist mit der unnachgiebigen Linie des Senats einverstanden. Jack Gelfort, Geschäftsführer der Hellersdorfer Wohnbaugesellschaft und Veranstalter eines HipHop-Festivals, auf dem die besten Sprayer der Stadt ihr Können zeigen dürfen, ist über die massiven Polizeieinsätze verärgert. Er spricht von Diffamierung einer ganzen Jugendkultur.

„Klar, auch wir haben in unseren Gebäuden mit Graffiti-Vandalismus zu kämpfen“, sagt Gelfort über den Zustand der Hochhaussiedlung am Ostrand der Stadt. „Aber anstatt die jungen Leute zu kriminalisieren, sollte man lieber ihre Kreativität in positive Bahnen lenken und ihnen legale Flächen zur Verfügung stellen.“

Auch der Grafiker und Sozialarbeiter Frank Senf ist kein Freund des harten Durchgreifens. Seit mehr als zehn Jahren betreut er im evangelischen Jugendhaus in Lichtenrade junge Sprayer. Im Garten des Jugendzentrums tummeln sich wie fast jeden Tag ein paar Kids, sprühen ungestört coole Typen und tanzende Buchstaben an die Wände eines Schuppens. Senf fördert ihre Talente, organisiert Workshops, stellt Werkstätten zur Verfügung.

Für solche Experimente hat Kriminaloberrat Helmut Stolz, Referatsleiter Verbrechensbekämpfung und Chef der Soko „Graffiti“, nur ein müdes Lächeln übrig. Er läßt Zahlen sprechen: „350 000 Kinder und Jugendliche leben in Berlin, rund 10 000 schmieren mit dem Edding-Stift auf dem Klo oder dem Schulweg herum. Nur 200 bilden den harten Kern der Graffiti-Szene. Eine absolute Minderheit müllt die ganze Stadt zu.“

Sammeln und sondieren, verfolgen und verhaften heißt die Taktik der Anti-Graffiti-Polizei. Die Beamten ziehen inkognito durch HipHop-Clubs, legen meterweise Fotoalben mit Schriftzügen an und haben es bei Hausdurchsuchungen vor allem auf die „black books“ – die Skizzenbücher der Täter – abgesehen. Ziel ist die totale Verunsicherung. „Man kann unsere Arbeit als eine unfreiwillige pädagogische Leistung ansehen“, sagt der Polizeichef. „Damit geben wir diesen Jugendlichen eine Chance, Dinge wie mein´ und ,dein´ endlich zu kapieren.“

Diese Lektion haben einige jedoch noch nicht gelernt. Im Gegenteil: Der Verfolgungsdruck der Polizei hat die Berliner Graffiti-Szene teilweise radikalisiert. Ende September begannen rund 80 dieser „Gangbanger“ am Rande eines HipHop-Konzerts am Hakkeschen Markt eine blutige Straßenschlacht. Anlaß waren Streitigkeiten zwischen rivalisierenden Crews. Als Messer blitzten, Fäuste flogen und die Blumenkästen eines benachbarten Restaurants zu Bruch gingen, rief eine besorgte Gastwirtin die Polizei. Unter Schlagstockeinsatz fischten die Beamten drei Schläger aus der aggressiven Menge und sperrten sie in einen Bus. Danach eskalierte die Situation. Die Jugendlichen demolierten und beschmierten eine vorbeifahrende Straßenbahn, schlugen einen Passanten mit einer Flasche nieder und prügelten sich stundenlang mit über hundert Bereitschaftspolizisten, um ihre drei Kameraden zu befreien.

Immer häufiger landen Sprayer vor Berliner Gerichten. Mehr als 700 Graffiti-Verfahren mußten die Justizbehörden im ersten Halbjahr 1997 bearbeiten – so viele wie noch in keinem Jahr zuvor. Im Saal B 21 des Amtsgerichts Tiergarten muß sich Alexander M., 20, vor der Jugendstrafkammer verantworten. Die Anklage lautet auf „Sachbeschädigung in zwei Fällen in Tateinheit mit Widerstand gegen die Staatsgewalt“. Illegales Sprühen an einem Bauwagen sowie unter einer Autobahnbrücke über die Spree werden ihm zur Last gelegt. Bei seiner Festnahme soll Alexander außerdem ei-nen Beamten der Wasserschutzpolizei angegriffen, bespuckt und beleidigt haben.

Mißbilligend nehmen Richter, Schöffen und die Staatsanwältin seine Ausreden – „Ich dachte, da darf man sprühen“ – zur Kenntnis. Als Wiederholungstäter fällt die Strafe für ihn deftig aus: drei Wochen Jugendarrest und ein Jahr Bewährung unter Aufsicht eines Betreuungshelfers. „Beim nächsten Mal sind Sie ein Fall für das Gefängnis“, gibt ihm der Richter mit auf den Weg.

Auch der 18jährige Florian F. muß seine Motive demnächst vor Gericht erläutern. Beim „taggen“ in Neukölln hatte er für seine Crew „den Scout gemacht“, als plötzlich der Wagen einer Zivilstreife mit quietschenden Reifen stoppte und mehrere Fahnder heraussprangen. Florians Pech: Beim Weglaufen rutschte ihm die Hose runter, und er stürzte. Die Nacht verbrachte er mit blutigen Händen in Einzelhaft, während Polizisten die elterliche Wohnung auf den Kopf stellten.

„In zwei Welten zu leben mit einer legalen und einer illegalen Identität“, erzählt Florian trotz des bevorstehenden Verfahrens begeistert von seinem Sprayerdasein. Abends trifft er sich mit seinen Freunden. Sie zeichnen Entwürfe in ihre „black books“, kif-fen, trinken und quatschen über ihre Heldentaten.

„Ich will diese Stadt nicht zerstören, sondern in meinem Sinne verändern“, sagt der junge Writer. „Die ,tags´ sind für mich verschlüsselte Botschaften wie eine gigantische Zeitung.“ Und natürlich gehe es auch um „Nervenkitzel“.

Für eine „geile Aktion“ nehmen einige Sprayer fast jedes Risiko in Kauf. Zum Beispiel „Level“, einer der Stars der Szene. Vor kurzem lief er am hellichten Tag in den Tunnel der U 7 und „machte“ auf einem unterirdischen Abstellgleis einen „whole car“ – einen „ganzen Zug“ – die größte Trophäe unter Sprayern. Er entkam durch einen Entlüftungsschacht und schaute der Polizeifahndung von einem Straßencafé aus zu. „Cool“ findet Florian diese Art von „action“, die manchmal tödlich endet. In diesem Jahr starben bereits zwei Jugendliche unter den Rädern der S-Bahn.

Dieter Hapel, Geschäftsführer der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, treibt das Sprayerunwesen zur Weißglut. Seit drei Jahren kämpft der von ihm gegründete Verein „nofitti“ mit PR-Aktionen, Ausstellungen und Informationsveranstaltungen gegen die „optische Verwahrlosung der Hauptstadt“. „Am Anfang wurden wir mit-leidig belächelt, aber jetzt hat sich das Meinungsbild in der Bevölkerung gewandelt“, resümiert Hapel zufrieden. „Mit einem langen Atem werden wir diesen Kleinkrieg gewinnen.“

An der Front wogt der Kampf inzwischen hin und her. In der Rigaer Straße in Friedrichshain ist das Graffiti-Mobil im Einsatz. Ein Generator brummt auf Hochtouren. Die Männer von der Stadtreinigung treten mit Atemmaske und schwerem Gerät gegen eine verschmutzte Hausfassade an. Zentimeterweise frißt ein feiner Strahl aus Altglasmehl und Steinpuder den Sprühlack vom Beton. Nach zwei Stunden harter Arbeit blitzt die Mauer strahlend sauber in der Sonne.

Aber für wie lange? Einsatzleiter Christian Blank macht sich keine Illusionen: „Vielleicht beobachten uns die Burschen von irgendwoher, feixen rum und warten darauf, daß wir endlich fertig sind.“

Angriffsziel Nahverkehr

Ein ganzer Zug, ein „whole car“, gilt unter Sprayern als die größte Trophäe. Sprayer und Vandalen verursachen an U- und S-Bahnen Schäden von 40 Mio. Mark. Zum Schutz der Depots kaufte die S-Bahn GmbH Zäune im Wert von 800 000 Mark. Wegen Schmierereien reinigt die Berliner S-Bahn täglich rund 250 Züge.

Sprüher in Aktion

95 Prozent der Berliner Sprayer sind männlich, 80 Prozent sind Deutsche. In den ersten sechs Monaten 1997 erstattete die Polizei 1816 Strafanzeigen. Die Justizbehörden beschäftigten sich im selben Zeitraum mit 691 Verfahren. Auf frischer Tat ertappte die Polizei im ersten Halbjahr 644 Sprayer.

Quelle: FOCUS Online